AUF EIN WORT (IV/2011)

„Kinderlied“ von Wolfgang Borchert

Wo wohnt der liebe Gott?

Im Graben, im Graben!

Was macht er da?

Er bringt den Fischlein ’s schwimmen bei,

damit sie auch was haben.

Wo wohnt der liebe Gott?

Im Stalle, im Stalle!

Was macht er da?

Er bringt dem Kalb das Springen bei,

damit es niemals falle.

Wo wohnt der liebe Gott?

Im Fliederbusch am Rasen!

Was macht er da?

Er bringt ihm wohl das Duften bei,

für unsre Menschennasen.

Liebe Gemeindeglieder,

dieses „Kinderlied“ von Wolfgang Borchert fand ich beim Stöbern in einem Buch – völlig unerwartet. Wolfgang Borchert kenne ich – schon aus meiner Jugendzeit. Da war ich Mitte der 80er Jahre in Wernigerode im „Friedenskreis“. Dort haben wir uns mit Texten gegen den Krieg / für den Frieden beschäftigt. Oft kam da Wolfgang Borchert vor, der nach dem zweiten Weltkrieg zahlreiche Texte zu diesem Thema veröffentlichte. Schwere und gewichtige Texte waren das. Und nun begegnet mir so ein lockeres, fast fröhliches Kindergedicht von Wolfgang Borchert – so etwas hätte ich von ihm nicht erwartet. Das „Kinderlied“ hat schon auch einen ernsthaften Hintergrund: Denn es antwortet eindeutig auf die Frage: „Ist Gott unter uns?“ mit: „Ja.“Die letzte Strophe: „Wo wohnt der liebe Gott? Im Fliederbusch am Rasen! Was macht er da? Er bringt ihm wohl das Duften bei für unsere Menschennasen.“ stimmt mich auf Erntedank ein. Da duften sie, die Erntegaben, mit denen wir unsere Kirche schmücken. Zwei Seiten habe ich durch dieses „Kinderlied“ an Wolfgang Borchert entdeckt: die ernste, in der es um Krieg und Frieden, um Leben und Tod geht. Und dann die heiter gelassene Seite, die aus unserem kurzen Gedicht spricht. Die Fragen nach Leben und Tod werden in diesem Jahr auch zu Erntedank bewegen. Gott gebe uns (dennoch) die Gelassenheit und Kraft, in Anbetracht von Erntedank auf die Frage: „Ist Gott unter uns?“ mit „Ja“ zu antworten und uns an den Gaben und ihrem Duft zu freuen.

Ihr Sebastian Beutel